· 

BLAUPAUSE

Es scheint einer dieser letzten warmen Sommertage gewesen zu sein. Gedankenverloren sammle ich im Garten die letzten Spielsachen zusammen, während das erste zarte Grillenzirpen auf den Abend einstimmt. Für einen Moment lasse ich mich auf dem Rasen nieder. Viel zu hoch der Gute, wollten wir ihn nicht gestern noch mähen? Auf meinem weißen Lieblingssommerkleid entdecke ich liebevoll verteilte Erdbeerflecken und reichlich Sandkastensand zwischen meinen Zehen. Nach 15 Monaten Elternzeit fühlt sich das fast schon wie Arbeitskleidung an. Ich zupfe mir einen langen Grashalm, klemme ihn mir lässig zwischen die Lippen und lasse mich zufrieden in unseren viel zu hohen Rasen sinken. Wenn ich eines in den letzten Monaten gelernt habe, dann ist es, kurze Pausen zu machen, wo es nur geht. Mein Blick schweift in den blauen Himmel. Eine Blaupause, wenn man so will. Doch dazu später mehr. Haben doch Sommer immer etwas Fundamentales mit Veränderungen zu tun. Ich meine, nicht umsonst gibt es Titel wie „Sommer unseres Lebens“ oder „Endlose Sommertage“. Auch wenn man behauptet, der Mai macht alles neu oder der Herbst wirft die Blätter für einen Neuanfang. Im Sommer lebt man irgendwie intensiver. So war doch gerade dieser Sommer in Anbetracht der Pandemie mehr als außergewöhnlich. Und dennoch wurden wir trotz vieler Einschränkungen dankbarer und bewusster. Fanden unser mehr im weniger. Jetzt liegt ein Hauch von Herbst in der Luft. Die Tage werden kürzer, die Nächte länger. Es steht die Jahreszeit bevor, die den Menschen schon immer düsterer empfanden als wärmend. Soll man vielleicht deshalb den Sommer so leben, dass er im Winter noch wärmt?

 

Ich blicke jedenfalls auf die zwei intensivsten Sommer meines Lebens zurück: Mutter werden - Ich selbst bleiben. Aus einer Partnerschaft eine Familie machen, doch die Zweisamkeit nicht vernachlässigen. Plan B als tägliche Routine zelebrieren und nicht durchdrehen im anfänglichen 24/7-Care-Modus. Familie und Freunde integrieren, doch abgrenzen, wo persönliche Grenzen überschritten werden. Hochmotiviert an meiner Selbständigkeit arbeiten, ohne mich zu schnell zu überfordern. Bedürfnisorientierte Erziehung ganzheitlich betrachten und dennoch den Mut haben, Fehler zu machen. Eine Gradwanderung. Ein Drahtseilakt. Ein Spannungsfeld. Es kann wohldosiert Erfüllung wie Energie geben, aber im nächsten Moment auch einen ordentlichen Schlag lassen, wenn es zu viel wird. Dann gibt es Momente, in denen man wie nach einem Stromschlag gelähmt ist. Sich ohnmächtig fühlt. Feststeckt zwischen Arbeit, Kinderbetreuung und Haushaltsmanagement. Unfähig wie unleidig. Ich selbst stand mir dann oft am meisten im Weg. Sich dann zu überwinden, den Sprung über die Komfortzone zu wagen, kostet nicht nur Mut. Nein. Vor allem Übung. Nur so werden wir stärker. Nicht vom perfekten, einmaligen Sprung. Sondern von den vielen Versuchen davor. Oder hat auch nur ein Kind jemals über Nacht oder gar beim ersten Versuch direkt Laufen gelernt? Und wie in jedem guten Training braucht es einen Coach. Ob Familie, gute Freund*innen oder das richtige Buch (oder Post oder Podcast) – lasst nichts unversucht. Niemand muss an sich alleine wachsen. Nicht nur, weil es ein Dorf braucht, um ein Kind großzuziehen. Es braucht auch ein Dorf, um Eltern zu sein. Nehmt es euch. Genauso wie die Zeit für euch selbst. Me-Time. Off-Time. Die Zeit, in der es einmal nur um euch geht. Nicht um das Kind, Haushalt, Partnerschaft, Familiengeschichten. Nur mal ihr. Verbringt sie schlafend, entspannend oder in bester Gesellschaft. Hauptsache ihr nehmt sie euch. Sonst sorgen irgendwann gefühlte 240 Volt an Überforderung für eine eher unfreiwillige Auszeit und das Gefühl, dass die Sicherung raus ist. Pause machen. Rechtzeitig.

 

 

 Eltern werden, das ist ein bisschen so, als zeichnest du nochmal eine Blaupause deines Lebens. Für die jüngere Generation: Tatsächlich gab es einmal eine Zeit, in der es weder digitale Medien noch Kopierer gab. Um dennoch schnellstmöglich eine Kopie von etwas zu machen, hat man sogenanntes Durchschlagpapier verwendet, welches in der Tat meistens blau gefärbt war. Hinter dieses Papier kam ein weißes Blatt und davor das Dokument, welches abgezeichnet oder besser gesagt, durchgepaust werden sollte. Auf dem weißen Blatt dahinter konnte so innerhalb kurzer Zeit eine Kopie, eine sogenannte Blaupause, erstellt werden. Kopie mittels Durchzeichnung, um es auf den Punkt zu bringen. Aber besser als eine schnöde Kopie, eine Blaupause gilt heute wörtlich als Idealskizze oder auch Vorbild. Und das versucht man als Eltern durchaus zu sein. Allein ich würde schon behaupten, dass Erziehung Liebe und Vorbild ist. Nichts weiter und dennoch so viel. Denn in dem Moment, in dem ich diese unbändige Verantwortung für einen kleinen Menschen trage, möchte ich genau wissen, was mir wichtig ist. Welche Werte ich leben und weitergeben möchte. Wie ich diese Welt sehen und erklären will. Und vor allem, wie ich sie erhalten möchte. Mir fehlt zunehmend das Verständnis für Eltern, die sich nicht mit Themen wie bewussten Konsum und Nachhaltigkeit auseinandersetzen wollen. Sind es nicht ihre Kinder, die auf diesem Planeten weiterleben (müssen)? Und sollte es nicht eben für diese nicht immer das Beste sein?

 

So trennten sich manche Wege und neue ergaben sich. Inspiration statt Belehrung. Verständnis statt Abgrenzung. Der Zug des Lebens, wie mein Vater immer sagt. Menschen kommen und gehen, begleiten dich nur für kurze Reiseabschnitte oder bleiben für ein ganzes Leben. Eltern werden katalysiert diesen Prozess. Kinder sind im metaphorischen Sinne das Durchschlagpapier dafür. Es paust sich nur ab, was Bestand hat. Und während das passiert, merkt man, was davon wirklich wichtig ist. Wirklich gut tut. Wirklich unersetzlich bleibt. Vielleicht ist diese Blaupause die Fahr- und Eintrittskarte für unseren Zug des Lebens. Wer hat seinen Platz an welcher Stelle, wer hat welchen Zutritt. Es liegt an euch. Werdet aktiver Gestalter, bestimmt euren Kurs und bleibt dran, um ihn zu halten. Und keine Angst, wenn ihr dabei blinde Passagiere entdeckt. Trennt euch gerne mutig von zu viel (emotionalem) Ballast in euren Wagons. Denn in einem zu vollen Abteil verliert man nicht nur den Überblick, es fehlt auch der Platz zum Tanzen. Tanzen. Barfuss dem Sonnenuntergang entgegen. Dafür würde sich der Rasen, auf dem ich noch liege, hervorragend eignen. Und während ich den Grashalm zwischen meinen Fingern hin und her drehe, überlege ich mir, ob ich ihn nicht mal kurz gegen einen Strohhalm tausche. Schließlich tanzt es sich mit einem Drink noch besser. Auch mal Blau machen, in der Pause.


Kommentar schreiben

Kommentare: 4
  • #1

    Tine (Sonntag, 06 September 2020 20:07)

    Ein toller Text. Du kannst wunderbar mit Worten umgehen! Und die message dahinter ist berührende!

  • #2

    Romina (Sonntag, 06 September 2020 21:25)

    Wie schön, liebe Tine! Das freut mich sehr zu lesen! Danke für dein liebes Feedback!

  • #3

    Silvi (Sonntag, 06 September 2020 22:02)

    In meiner Pause - ein bisschen blau :) - den Text genossen

  • #4

    Romina (Montag, 07 September 2020 19:38)

    Genau so soll es sein! ;-) Danke für‘s Zeitnehmen und Lesen!