
Jetzt mal Hand auf's Herz, wie oft sind wir eigentlich noch so richtig draußen? Also in dem Draußen, wo das Vogelzwitschern lauter ist als der Straßenlärm und man weit und breit keinen Strommast sieht. Wie oft stehen wir noch auf echtem Boden? Wo wir doch ständig über gepflasterte Wege gehen und in betonierten Büros arbeiten. Mit draußen meine ich nicht das vermeintliche Gartenfeeling, wenn wir mal eben Angrillen oder gar die tägliche Spielplatzvisite. Nein, ich meine mit draußen so viel Abstand zum Alltäglichen, dass wir alle Verpflichtungen und Routinen wirklich mal kurz vergessen können. Das Draußen, das unsere Seele zum Urlaub machen einlädt. Und genau dafür packten wir vor einigen Wochen mit den ersten Reiselockerungen unsere sieben Sachen und unsere einjährige Tochter in mein 30. Geburtstagsgeschenk. Das war ein Familienwohnmobil und ursprünglich war damit Schweden geplant. Ursprünglich. Doch jetzt roch es nach Abenteuer und Mut zur Lücke in Sachen Campingplatzsuche und Routenplanung. Genauso mutig war es auch, die Packdauer für so ein Abenteuer zu unterschätzen. So romantisch sich ein Wohnmobilurlaub auch anhört, der Auftakt beginnt wörtlich schleppend. Ja, trotz Packlisten und strukturierter Herangehensweise, irgendetwas fehlt immer. Aber welches Abenteuer beginnt schon perfekt vorbereitet?
Und so fuhren wir ohne Dosenöffner und Kochtopf zum ersten kleinen wie charmanten Campingplatz. Eine große Campingwiese ganz ohne spießige Parzellen, mit Lagerfeuer am Abend und einem großen Bauernhofbetrieb zum Mithelfen. Direkt von unserem Stellplatz aus führte ein kleiner Steg auf den angrenzenden Weiher, in dem sich der dichte Mischwald spiegelte. Da unser Kind Hardcore-Frühaufsteherin ist, fand ich mich dort schon früh morgens wieder. Während sie mit einem kleinem Stock im Wasser stocherte, genoss ich den wärmenden French-Press-Kaffee und bewunderte die malerischen Nebelschwarten am Uferrand. Mit dem Sonnenaufgang begann der Betrieb am Hof und alle Tiere wollten versorgt werden. Als unsere Tochter unermüdlich mit ihre kleinen Händen ein Heubüschel nach dem anderen zu den Kühen brachte, wurde mir wieder einmal bewusst, dass selbst die Kleinsten unter uns schon früh nach einer Aufgabe suchen. Teil der Gemeinschaft sein wollen. Nie würde ich sie unterschätzen oder mit weniger Respekt behandeln wollen, nur weil sie „noch klein“ ist. Als sich unsere Tage am Buchseehof dem Ende neigten, merkte ich, wie ich mich so unbewusst wie allmählich entspannt hatte. Klar nimmt man beim Campen den Alltag indirekt mit: Man kocht, man wäscht, man fegt mal durch und räumt abends auf. Doch man macht diese Dinge irgendwie bewusster und ist dabei deutlich mehr unter freiem Himmel - und weniger im digitalen Cloudkosmos. Denn mein Handy lag größtenteils beleidigt auf dem Beifahrersitz. Weder Empfang noch mobile Daten oder gar WLAN gaben ihm einen Reiz. Und mir so die Möglichkeit, wirklich einmal abzuschalten. Social Media wurde mit echter Social Interaction ersetzt. Statt dem abendlichen Podcast lauschte man dem Zirpen der Grillen und unterhielt sich mit den unterschiedlichsten Menschen beim Abwasch. Gerade unser fehlender Kochtopf brachte uns innerhalb kürzester Zeit mit allen möglichen Nachbarn ins Gespräch, da wir als Leihgabe immer an eine andere Tür klopfen mussten. Überhaupt sind nach unseren noch zarten Erfahrungen der Großteil der Camping-Urlauber sehr großherzige und offene Menschen. Man teilt, man lacht und man genießt das Draußen-Zuhause zusammen.
Wenige Tage später wanderten wir mit unserem Draußen-Zuhause weiter und wieder einmal wurde mir der Charme und die Faszination eines Reisemobils bewusst. Während man in der Dunkelheit ankommt und nur im Scheinwerferlicht die ersten Umrisse der Umgebung erahnen kann, ist es bei Sonnenaufgang und mit dem Öffnen der Campingtür immer ein Überraschungsmoment. Und dennoch hatte für mich der erste Blick auf den Bodensee etwas unbewusst vertrautes, kommt doch ein großer Teil meiner Familie aus dieser Region. Außerdem üben große Gewässer und das Meer schon immer eine Faszination auf mich aus. So war es auch keine Frage, dass wir uns direkt am nächsten Tag ein kleines Boot mieteten und das herrlich klare Wasser und die idyllischen Uferabschnitte erkundeten. Überhaupt bieten der Bodensee und vor allem der Untersee um Konstanz viel zu sehen und zu entdecken. Campingurlaub heißt schließlich nicht nur am Wohnmobil gefesselt zu bleiben, sondern auch die Umgebung des jeweiligen Standortes zu entdecken. Also packten wir die Fahrräder und den Kinderfahrradanhänger vom Wohnmobilträger und fuhren einfach los – ins Blaue oder besser gesagt ins Grüne. Denn das gemeinsame Erleben ist tatsächlich etwas, was wir Zuhause zu oft vernachlässigen. Im täglichen Alltagstrubel fällt es schwer, für einen Moment auszubrechen. Dabei ist dieses „einfach mal los“ die Art von Seelennahrung, die wir manchmal brauchen. Als wir mit den Fahrrädern an den goldenen Kornfeldern vorbeisausten und die laue Sommerbrise genossen, spürte ich wieder die Leichtigkeit in meinem Herzen. Ja, auch in unserem Draußen-Zuhause wartete noch der Abwasch vom Mittagessen und man hätte sicherlich noch eine Wäsche machen können. Aber da jeder Urlaubstag zählte, rückten die Prioritäten in eine neue Reihenfolge. Das Leben hatte wieder mehr Platz und die Dinge durften passieren, ohne minutiös geplant oder getaktet zu sein. Die Effektivität wich der Freude des Moments. Leben, das bedeutete wieder mehr zu machen und weniger zu denken. Weil jeder Tag zählt. Im Draußen- wie im echten Zuhause.
Während unserer Reise gab es viele dieser Überraschungsmomente, wenn wir den Platz wechselten und am nächsten Tag ein neues Abenteuer hinter der Wohnmobiltür wartete. Doch dieser eine Moment, der bleibt für mich unvergessen. Auch wenn er uns eine aufreibend wie abenteuerlich Anfahrt auf über 1.200 Höhenmeter kostete. Als ich am nächsten Morgen auf die wolkenverhangenen Dolomiten blickte, da nahm mir die klare Bergluft kurz den Atmen, so unerschütterlich und ehrfüchtig trohnte das Felsmassiv vor unserem Wohnmobil. Der Wetterumschwung hatte uns zur spontanen Umplanung der Route gedrängt. Und wie das auch im echten Leben so ist, im kurz entschlossenen Handeln warten oft die schönsten Gelegenheiten. So trafen wir auf dem Mittersteinerhof in Teile und Freunde der Familie wieder. Dieser Ort versprühte tatsächlich etwas Magisches, weil er in seiner Ursprünglichkeit als Jahrhunderte alter Berghof seinen Charme nie verloren hat. Außerdem machen ihn die Menschen, die ihn über Jahre so liebevoll renoviert haben, so besonders. Die große schwere Holztür zum Haupthofgebäude steht immer offen. Früh morgen strömt frischer Kaffeeduft nach draußen und abends hört man fröhliches Gelächter, wenn alle beim Abendbrot zusammensitzen. Hier kommt man nicht nur zum Entschleunigen, sondern auch zum Träumen. Wie war das wohl früher, als Großfamilie? Leben im und am Bauernhof? Als Selbstversorger? Außerdem gibt es hier immer etwas zu tun. Vom Ausbau des Neben- und Hauptgebäudes mal abgesehen, waren täglich alle Tier zu versorgen und zu misten. Schlechtes Wetter war keine Ausrede, die Matschhose nie so oft im Einsatz. Hier schaut keiner raus und sagt: „Oh, es regnet, das war’s dann mit dem Tag.“ Nein. Hier gibt es nur schlechte Kleidung, kein schlechtes Wetter. Und um ehrlich zu sein, wir hatten reichlich schlechte Kleidung, da wir Anfang Juni nicht mit Dauerregen und Hofmatsch gerechnet hatten. Aber auch da fand sich immer eine Lösung - von Umfunktionieren über Ausleihen. Perfektion macht das Leben doch nur unkreativ und langweilig!
Der Abschied viel uns schwer. Viel zu schnell hatten wir uns an dieses Leben und Mitanpacken als große Patchwork-Familie gewöhnt. Und ich wurde einfach das Gefühl nicht los, dass diese Art zu leben tief in uns steckt. Wir sind Rudeltiere und gemeinsam geht so vieles leichter. Allein schon, weil Kinder immer Kinder suchen. Und so führte uns die letzte Station unserer Reise an den wunderschönen Chiemsee. Dort trafen wir uns mit Freunden, die wir auch viel zu lange nicht mehr gesehen hatten und die wir jetzt als Eltern umarmten. Wie doch die Zeit vergeht und wie vergänglich alles ist. Ein bisschen wehmütig wird man am Ende einer Wohnmobilreise dann schon. Gewöhnt man sich doch sehr an sein Draußen-Zuhause, an das Abenteuer und die Überraschung jedes Moments. Bei dem Gedanken, in unser Drinnen-Zuhause zurückzukehren, freute ich mich. Und gleichzeitig war mir auch ein bisschen mulmig. Denn drinnen, das fühlte sich wieder nach Alltag an. Zuhause gab es wesentlich mehr in Stand zu halten als auf den wenigen Wohnmobilquadratmetern. Und sobald man zurück war, war man auch für den gesamten Familien- und Freundeskreis wieder erreichbar. Mehr noch, mit WLAN und 4G richtig online und auf allen Kanälen digital verfügbar. Doch wenn ich mir neben all den schönen Erinnerungen dieser Reise zwei Dinge in den bevorstehenden Alltag mitnehme, dann ist es zum einen das Setzen von Prioritäten und ein klares Fokussieren und zum anderen das Leben im Hier und Jetzt. Zumal diese Dinge wunderbar aufeinander aufbauen. Wenn ich mich dafür entscheide, ganz bewusst das eine zu tun, weil es jetzt wichtig ist und ich mich bewusst darauf konzentriere, bin ich ganz im Moment. Ich kann mich genüßlich bei einer Tasse Kaffee der Planung und Wochenorganisation widmen (beispielweise wenn das Kind schläft), um danach gemeinsam etwas zu unternehmen oder zu spielen. Wenn es nicht dringend ist, werden Freunde oder Familie erst am Abend zurückgerufen oder erhalten liebevolle Antworten auf die Nachrichten von morgens. Und ab 21:00 Uhr gehen alle digitalen Geräte in den Flugmodus. Dann ist Zeit, um zu Lesen oder im Garten dem Zirpen der Grillen zu lauschen. Zeit für mich oder für ein gutes Gespräch mit meinem Mann. Das ist es, was ich mir von diesem Draußen-Zuhause in mein Drinnen-Alltag mitnehme. Und natürlich die Königsdisziplin, das Ja-Sagen zum Hier und Jetzt, auch wenn es mal nicht nach Plan läuft. Schließlich ist Leben genau das, was dir passiert, während du andere Pläne machst. Warum beginnen wir also unseren Tag nicht wieder so, als würden wir die Tür des Wohnmobils für ein neues Abenteuer öffnen?
Kommentar schreiben
Montse Parejo (Freitag, 19 Juni 2020 13:11)
Ich konnte beim lesen dieses wunderschöne Gefühl der Freiheit im draußen fühlen...
Glückwunsch für dieses toll beschriebene Erlebnis ���
Peter Knopf, Otterfing (Freitag, 19 Juni 2020 13:32)
Danke für diese wundervolle Reise in meine Vergangenheit ❤
Ich bin sehr berührt ⚘
Gaby Michels (Freitag, 19 Juni 2020 23:42)
Eine wunderschöne emphatische Reisebeschreibung ....viel Erfolg und gute Gelingen beim umsetzen Deiner Erfahrungen und Vorsätze im Alltag ��
Knopf-Ki (Samstag, 20 Juni 2020)
Wunderschön - ich war mit dem Herzen dabei
Roland (Samstag, 20 Juni 2020 09:36)
Bin begeistert, wirklich toll :)