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SCHLÄFT SIE SCHON DURCH?

Auf den Tag genau wird unsere Tochter heute zehn Monate alt. In all den Monaten hat sie nicht nur ihr Gewicht verdreifacht. Nein, sie hat auch von alleine gelernt zu krabbeln, sich hochzuziehen und mit ihrem Umfeld zu kommunizieren. Zu zeigen, wenn sie etwas mag oder eben auch nicht. Sie hat eine räumliche Wahrnehmung entwickelt, kennt die täglichen Routinen und erinnert sich an vertraute Gesichter. Sie liebt Musik und brabbelt schon ihre ersten kleinen Laute vor sich hin. Und das sind nur ein paar der beeindruckenden Meilensteine, die dieser kleine Mensch in so kurzer Zeit eigenständig erreicht hat. Doch das scheint in unserer Gesellschaft nur auf wenig Interesse zu stoßen. Oder warum werden wir ständig nur gefragt, ob sie schon durchschläft? Als wäre das die alles entscheidende Entwicklungsstufe. 

 

Wenn ihr mich fragt, dann findet die Gewichtung dieser Frage ihre Wurzeln in der Vergangenheit. Und zwar zu der Zeit, als die mechanische Uhr(-zeit) unsere Gesellschaft "revolutionierte". Denn vor dem 14. Jahrhundert war die Zeit vor allem durch den naturgegebenen Übergang von Tag und Nacht sowie dem Wechsel der Jahreszeiten bestimmt. Und auch in der Nacht schlief man nicht unbedingt durch, da fand sich immer wieder jemand am Feuer. Außerdem waren auch tagsüber kleine Schläfchen jederzeit fast problemlos möglich. Ob ein Kind durchschläft oder nicht, war zu diesen Zeiten noch relativ schnuppe. Doch dann begannen die Menschen, sich selbst der Zeit zu bemächtigen. Sie schufen kleinere Zeiteinheiten und erfanden die mechanische Uhr sowie den künstlichen Tag-Nacht-Rhytmus. Die Menschen mussten zu immer festeren Zeiten arbeiten und funktionieren. Sie mussten zu einem bestimmten Zeitpunkt schlafen, um zu einem anderen voll einsatzfähig zu sein. Daran soll sich bitte auch der Nachwuchs gewöhnen. Die Nacht zum Tag machen – das passte in diese neue Zeit nicht mehr. Dabei hatte sich Mutter Natur durchaus etwas dabei gedacht, als sie kleinen Kinder das Anti-Durchschlaf-Gen vererbte. Denn die leichten Schlafphasen und das damit häufige Aufwachen sorgen immer wieder für die Sicherstellung, dass die Eltern noch da sind und man sich noch dort befindet, wo man eingeschlafen ist. Man bedenke unsere Nomadenursprünge: Wäre der Clan weitergezogen und hätte das friedlich schlummernde Baby zurückgelassen, hätten die Säbelzahntiger leichtes Spiel gehabt. Zudem braucht das Gehirn, das im ersten Jahr enorm wächst, kontinuierlich Nährstoffe. Deshalb muss regelmäßig nachgetankt werden. Es hat also einige gute Gründe, dass Kinder anfangs noch nicht durchschlafen. Doch wir stellen einfach ein über Millionen von Jahren evolutionär entwickeltes Verhalten hinter eine gerade einmal 700 Jahre alte technische Revolution namens Uhrzeit. Da frage ich mich, ob wir noch richtig ticken, wenn wir erwarten, dass ein wenige Monate altes Baby schon friedlich durchschläft.

 

Aber ja, wir leben nicht mehr in der Urzeit, sondern nach der Uhrzeit. Sie hat ihren eigenen Takt, nach dem auch wir irgendwie funktionieren müssen. Doch bedeutet das auch, dass selbst die Kleinsten unter uns automatisch funktionieren müssen? Ihren natürlichen Rhytmus schnellstmöglich verlernen, um dem steifen Takt unseres Systems folgen zu können? Und wenn wir schon von funktionieren sprechen, warum können wir dann nicht die Vielfalt darin erkennen? Ich meine, Funktionen bestehen doch nicht nur aus erfüllen oder defekt sein. Funktionen können vielfältig und einzigartig sein, wenn wir uns mit deren "wie" beschäftigen. Wie funktioniert etwas? Wie macht das der eine und wie der andere? Während das eine Baby freudig krabbelt, zieht sich das andere vielleicht schon mutig hoch. Das eine Kind läuft früh, aber vorsichtig, das andere spät, dafür umso schneller. Manche Kinder sind feinmotorisch präziser, andere packen lieber beherzt zu. Und nichts davon ist besser oder schlechter, richtig oder falsch. Nein, jedes Kind ist auf seine Art besonders und ein kleines Individuum. Sie entwickeln sich alle nach ihrem ganz eigenen natürlichen Rhythmus, der noch aus einer Zeit kommt, die nicht tickte. Geben wir ihnen wieder diese Zeit, in der sie weder funktionieren noch durchschlafen, sondern einfach nur glücklich sein müssen. 



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