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GLÜCKSGRIFF

Wenn man Eltern wird, verändert sich das ganze Leben. Diesen Satz hatte ich in der Schwangerschaft bereits Hunderte Male gehört. Doch erst in der Wochenbettzeit konnte ich ihn in Ansätzen verstehen, und es dauerte noch einmal ein halbes Jahr, bis ich wusste, was er wirklich bedeutet. Denn es ändert sich weit mehr als nur die gewohnten Lebensumstände. Denn Eltern zu werden, das veränderte vor allem uns als Mensch. Noch nie habe ich mich so sehr mit meinen eigenen Werten und Überzeugungen beschäftigt. Ich war noch nie so voller Liebe oder hätte gedacht, dass ich einmal so mutig sein kann. So mutig, um bewusst einen anderen Weg in Sachen Babyumgang und Kindererziehung einzuschlagen. Einen Weg, der immer noch für verwunderte wie begeisterte Gesichter sorgt. Einen Weg, der uns zu einer starken kleinen Familie machte. Der Weg der sogenannten bedürfnis- und bindungsorientierten Erziehung.

 

Alles begann recht unspektakulär mit 288 Seiten Papier. Dabei war es eigentlich kaum verwunderlich, als mich im siebten Monat bei meinen Onlinerecherchen ausgerechnet ein Babybuch mit dem Titel „artgerecht“ in seinen Bann zog. „Da nennt mal jemand das Thema klar beim Namen", dachte ich mir und bestellte ungeduldig das Buch, das unsere ganze Sicht auf das Thema Kinder verändern sollte. Denn die war bis dato recht konventionell geprägt: Im liebevoll eingerichteten Kinderzimmer schlummert selig das Baby in seinem Bettchen, vom Kombikinderwagen beim Sonntagsspaziergang entspannt in den Schlaf gerüttelt. Die Wickelkommode bestens bestückt mit allen Pflege- und Wickelutensilien und die Gedanken kreisten schon um einen Laufstall oder eine Babywippe. Trotzdem war die kommerzielle „Was ihr unbedingt braucht"-Liste noch lang. Doch das gab uns irgendwie das Gefühl, als Eltern gut vorbereitet zu sein oder zumindest alles dafür zu tun. „Typische Ausrüstungskäufer, als wäre Materie käufliche Sicherheit", würde ich mich nachträglich jetzt selbst rügen. Denn mit den ersten Seiten des artgerecht-Buchs rückten all diese vermeintlichen „ihr braucht das"-Sachen in ein völlig anderes Licht. Der artgerecht-Ansatz ist ein erfrischend anderer Weg in Sachen Babyumgang und Kindererziehung - zurück zum Ursprünglichen, zum Wesentlichen und Wichtigen. Fernab von den konventionellen Ansätzen, hin zu einer verständnisvollen Kommunikation, zu mehr Unkompliziertheit und zu mehr Achtsamkeit für alle. Tatsächlich auch zu mehr weniger, denn so ein neugeborener Mensch braucht anfangs nicht viel, außer einer kleinen sinnvollen Erstausstattung, maximaler Empathie und viel Liebe. Im Prinzip geht es bei artgerecht vor allem um die direkte Berücksichtigung der Babybedürfnisse. Und diese Bedürfnisse sind an sich recht einfach und an einer Hand abzuzählen: Essen, Schlaf, Nähe, Sauberkeit,  Entdecken. Soweit die Theorie. Wir haben den Praxistest gemacht und möchten euch die Erfahrungen der letzten sechs Monate nicht vorenthalten.

IM ECHTEN LEBEN

Also, der Reihe oder besser gesagt der Bedürfnisse nach. Das wohl wichtigste Bedürfnis eines Neugeborenen ist Nahrungsaufnahme. Klar, ohne Mampf kein Kampf und was gäbe es Besseres oder Natürlicheres als das Stillen? Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie wichtig ein guter Stillstart ist. Wir waren bewusst in einem sogenannten babyfreundlichen Krankenhaus und hatten dadurch immer eine ibcl-zertifizierte Hebamme, die mich die ersten Tage begleitete und bestärkte, auch wenn es nicht gleich klappte oder schmerzte. Schnell hatten wir nach den ersten Versuchen den Dreh raus und seit dem keinerlei Stillprobleme. Präventiv gekaufte Plastikflaschen, Milchpumpe & Co? Oder Pre-Milch, falls das Kind mal nicht satt wird? Wir kamen wunderbar ohne damit aus und für alle die Stillen wollen und auch können, ich kann euch nur bestärken. Macht es! Auch weil die Vorteile mittlerweile wissenschaftlich sehr schön belegt, wie ihr hier lesen könnt. Wir haben uns übrigens ganz bewusst gegen einen Schnuller entschieden. „Der Kindermund dient in erster Linie der Begegnung mit der Welt, nicht zur Aufnahme einer Beruhigungsattrappe,“ wie es dieser Artikel so schön auf den Punkt bringt. 

 

Die Sache mit dem Babyschlaf scheint eine eigene Wissenschaft geworden zu sein, über die schon unzählige Bücher geschrieben und fragwürdige Empfehlungen ausgesprochen wurden. Von den gruselige Schlaftrainings ganz zu schweigen. Dabei kann es so einfach sein, wenn man versteht, was in unseren Babys beim Thema Schlaf vor sich geht. Denn diese kleinen Wesen kommen im Steinzeitmodus auf die Welt und müssen das Schlafen – so wie wir es tun - erst noch lernen. Der Steinzeitmodus gibt erst grünes Einschlaflicht, wenn alle relevanten Bedürfnisse befriedigt sind.  Also erst einschlafen, wenn alles sicher ist, du satt bist, dir warm ist und keine Säbelzahntiger mehr da sind. Ein Baby also mit leerem Magen und voller Windel alleine in ein dunkles Zimmer zu legen ist nicht die ideale Voraussetzung. Aber hey, bevor ich euch hier weiter volltexte, von artgerecht-Begründerin Nicola Schmidt gibt es dieses wunderbare Video darüber, das es in knapp drei Minuten perfekt auf den Punkt bringt. Auch unsere Tochter schlief von Anfang bei uns. In unserem Zimmer, in unserem Bett, in unserer Nähe. Durch dieses sogenannte Co-Sleeping wurde ein Teil des Nähebedürfnisses schon ganz beiläufig in der Nacht gestillt und tagsüber durch das Tragen im Tuch oder in der Trage verstärkt. Den Kinderwagen lehnte unsere Tochter ganz instinktiv ab. Viel zu schön war es einfach, eng an Papa oder Mama gekuschelt die Welt zu entdecken. Außerdem wird durch das Tragen in der sogenannten Anhock-Spreizhaltung die C-Form der Wirbelsäule ideal unterstützt und auch Koliken können vorgebeugt werden. Zudem wird „Tragekindern“ ein besseres Körpergefühl und einen geschulteren Tastsinn nachgesagt. Also investierten wir in eine gute Trageberatung und entschieden uns für eine Trage, die Mama und vor allem auch Papa passte. Denn wie heißt es so schön: „Das Tragen ist das Stillen der Männer." Mich macht es immer wieder glücklich, wenn ich sehe wie selbstverständlich sich unsere Kleine von Papa durch die Welt und in den Schlaf tragen lässt.

OHNE WINDEL, OHNE LAUFLERNHILFE

Unsere Tochter liebt das Tragen, doch auch sie möchte mal abgesetzt werden und das vor allem dann, wenn sie mal muss. Wie jetzt, sie kündigt das an? Ja, diese sogenannte Elimination Communication (zu deutsch Ausscheidungskommunikation) gibt es wirklich. Und jedes Baby beherrscht sie. Nur in unserer westlichen Welt hat die Wegwerfwindelindustrie ganze Arbeit geleistet, und es scheint inzwischen leider ganz normal zu sein, dass sich ein Baby mehrfach in seiner Windel anpinkeln muss, bis diese gewechselt wird. Aber es darf sich ja auch rentieren, schließlich gibt es Windeln die laut Werbeversprechen bis zu 12 Stunden trocken halten. Mal ernsthaft, würden wir das wollen? Die ich glaube eher nicht und genauso wenig diese sensiblen kleinen Menschen. Oder warum machen sonst so viele Babys ausgerechnet dann, wenn die Windel mal kurz weg und frische Luft an den Popo kommt? Unsere Tochter beispielsweise war sehr penibel und weigerte sich, in einer Windel mit nur etwas Pipi einzuschlafen. Wenn sie mal musste, sendete sie ganz typische Signale und so beschäftigten wir uns schnell mit dem Begriff „Windelfrei“. Wir stiegen größtenteils auf Stoffwindeln um und konnten unsere Kleine schon mit wenigen Monaten erfolgreich auf ein Töpfchen setzen bzw. abhalten. Und das hat nichts mit Voll-Ökos zu tun! Nein, es ist etwas ganz Natürliches im Vergleich zum Wegwerfwindel-Prinzip. Im asiatischen Raum würden wir sicherlich auf große Irritationen stoßen: „Ihr trainiert den Babys ihre Ausscheidungskomnubikation ab bzw. irgnoriert sie, um es ihnen Monate bis Jahre später wieder mühsam anzutrainieren?“. Wer jetzt noch ein paar Fragezeichen hat, die liebe Ellen von chezmamapoule bringt es hier so wunderbar auf den Punkt.

 

Zu guter Letzt wäre da noch das neugierigst Bedürfniss, der kleine Entdeckergeist. Und so habe auch ich bei meinen Recherchen zum Fördern und Entwickeln selbst noch einige spannende Ansätze entdeckt, die wir auf unserem Weg nicht mehr missen möchten. Zum einen gibt es die überaus fundierten Ansätze der Pädagogin Emmi Pikler, die sich mit der eigenständigen (körperlichen) Entwicklung von Kindern beschäftigte. Durch wissenschaftliche Beobachtungen und Dokumentationen verschiedenster Babys in unterschiedlichen Stadien stellte Pikler fest, dass Babys von ganz alleine alles mitbringen, was sie für ihre motorische und körperliche Entwicklung brauchen. Und zwar ganz ohne unser übermotiviertes Eingreifen. Unsere Aufgabe besteht vor allem in der Fürsorge ihrer Bedürfnisse, dem Aufbau einer guten Bindung und vor allem nur sinnvoller wie punktueller Unterstützung. Eben nicht das gutgemeinte Fördern, das schnell zum Überfordern wird. Denn das Kind in eine passive Sitzposition zu bringen oder es in Lauflernhilfen zu spannen – um nur ein paar Beispiele zu nennen –, ist zwar gut gemeint, längerfristig aber oftmals problematisch. Denn Kinder durchlaufen von ganz alleine diese Schritte gemäß ihrem Tempo und ihrem Entwicklungsstand. Jeder Zwischenschritt in ihrer körperlichen Entwicklung ist so ungemein wichtig, um beispielsweise die nötige Muskulatur aufzubauen oder die Koordination dafür zu entwickeln. Drängt man sie, schneller zu den großen Schritten zu kommen, und bringt man sie in Positionen, in die sie von alleine nicht gekommen wären, vollziehen sie diese oft unausgereift, unsicher und instabil. So haben auch wir unsere Tochter nie künstlich in die Bauchlage gebracht. Sie hat sich überaus zeitgerecht (Basis der Werte/Vergleiche von Emmi Piklers Beobachtungen in Lochzy) von ganz alleine auf den Bauch gedreht und nur wenig später auch wieder zurück. Nie wurde sie lange in einer Babywippe fixiert und sie hatte gemäß dem Pikler-Ansatz immer mehr Platz als sie benötigte. Wie Emmi Pikler schon sagte: "Es ist nicht entscheidend, wann ein Kind etwas tut, sondern wie es das Kind tut." Genau deswegen sollten wir uns meiner Meinung nach von Vergleichen oder gesellschaftlichem Druck lösen und sich jedes Kind in seinem eigenen Tempo eigenständig entwickeln lassen.

HILF MIR, ES SELBST ZU TUN

Wo wir bei Eigenständigkeit sind, Maria Montessori ist vielen sicherlich ein Begriff. Ein pädagogischer Ansatz, der sich unmittelbar am Kind orientiert und die Bedürfnisse des Kindes konsequent berücksichtigt. Der Grundsatz lässt sich eigentlich wunderbar mit dem Zitat „Hilf mir, es selbst zu tun“ erklären. Auch wenn Montessori im ersten Lebensjahr noch eine eher kleine Rolle spielt, haben wir uns schon bewusst für eine reduzierte Montessori-Spielecke entschieden. Das vermeintlich gekaufte Gitterbett (hier die ganze Geschichte dazu) wich einem Montessori-Bett und auch bei den Spielsachen war das oberste Credo "passives Spielzeug, aktives Kind". Für ihren ersten Geburtstag haben wir schon einen Lernturm auf unserer Wunschliste und ein Pikler-Dreieck wird dieses Jahr unter dem Weihnachtsbaum liegen. Doch das größte Geschenk macht sie uns, wenn sie von sich aus täglich eigenständiger und neugieriger wird. 

 

Ein Höchstmaß an Empathie, mehr Zeit statt Zeug und ein bewusstes Mitdenken gaben uns die Grundrichtung für unseren bindungsorientierten Familienweg. Dass dieser nicht immer einfach ist, darf auch mal gesagt sein. Nicht umsonst würde die Babywarenindustrie ein großes Geschäft wittern. Mit elektrischen Schaukelwippen, Super-Saugstark-Windeln, gruseligen Schlaftrainings und noch so einigem mehr soll der Umgang mit den Babys erleichtert werden. Vermeintlich, denn der Invest bleibt der gleiche. Doch das würde jetzt wirklich zu weit führen, ich sage nur Energieerhaltungssatz und wie artgerecht-Begründerin Nicola Schmidt so schön sagte: „Wer am Anfang schon einiges richtig macht, kann hinterher kaum noch etwas falsch machen.“ Für uns hat sich unser gemeinsamer Familienanfang auf dem artgrecht-Weg absolut richtig angefühlt und wir wagten ihn ganz ohne käufliche Abkürzungen. Wir haben den Umgang in Sachen Materie auf ein Minimum reduziert, dafür Nähe, Ruhe und Empathie ganz nach oben gestellt. Schnell fanden wir so unsere gemeinsame Sprache, konnten die Signale unserer Tochter immer präziser deuten und haben bis heute das Glück, ein Kind zu haben, dass so gut wie nie schreit. Und wenn, dann wissen wir genau, woran es liegt. „Glück gehabt,“ denkt sich jetzt vielleicht der eine oder andere, aber vielleicht waren wir auch einfach unser eigener Glückes Schmied?

NOCH MEHR ZUM THEMA

Wer jetzt neugierig geworden ist und gerne noch mehr erfahren möchte, hier sind meine Buchempfehlungen und liebsten Onlineseiten.

  • Geborgen Wachsen von der wunderbaren Susanne Mierau. Eine kleine Onlinebibel in Sachen bindungs- und befürfnisorientierter Erziehung. 
  • Eltern vom Mars gerade in Sachen Montessori ein Muss und man bekommt sofort Lust, loszulegen. 
  • Langsam Achtsam Echt ist auch ein ganz besonderer ganzheitlicher Blog von der lieben Anna, der man eigentlich auch unbedingt auf Instagram folgen sollte!

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Kommentare: 6
  • #1

    Ina (Mittwoch, 01 Januar 2020 17:08)

    Hey coole Sache! Vor allem das umweltthema... spannend, da ich mich mit dem Thema auch sehr beschäftige und du hier nochmal Tipps hast, die bestimmt top recherchiert sind und ich nicht wusste :)

  • #2

    Romina (Donnerstag, 02 Januar 2020 13:39)

    Liebe Ina, das freut mich sehr zu lesen! Vielen Dank für das schöne Feedback, ich gebe mein Bestes, immer gut zu recherchieren und die Tipps verständlich aufzubereiten! :-)

  • #3

    Maria (Samstag, 04 Januar 2020 21:44)

    Liebe Romina,

    ich glaube da liegt eine Verwechslung vor. Ein Lauflernwagen ist etwas das Kinder selbst schieben und so mit dessen Hilfe in eigenem Tempo laufen lernen können ohne den Halt zu verlieren. Das machen Kinder übrigens auch ohne eigens dafür vorgesehenem Gerät mit Kisten, Stühlen, Mülleimern. Das nette Ding in das man die kleinen einspannt oder reinsetzt heisst Walker oder Lauflernhilfe ;)

    Liebe Grüße

  • #4

    Romina (Sonntag, 05 Januar 2020 10:26)

    Liebe Maria, vielen Dank für dein wertvolles Feedback, ich habe es direkt redigiert. Ich habe diese "Geräte" bei meinen Recherchen oft unter Lauflernwagen gefunden und den Begriff daher verwendet. Aber du hast natürlich völlig Recht, der Lauflernwagen ist etwas ganz anderes als die Lauflernhilfe. Nochmals Danke für die Erhellung! ;-) Viele Grüße, Romina

  • #5

    Yvonne (Montag, 27 Januar 2020 19:44)

    Ich danke für den wertvollen Beitrag �und finde deine Sichtweise nachvollziehbar und logisch.
    Bewusste Entscheidungen sind hier -glücklicherweise - gepaart mit gesegneten Außenumständen und einem so wichtigen "Dorf" um eure wundervolle kleine Familie.
    Ich habe selbst drei Kleinkinder und kann immer wieder nur bestätigen, dass diese das "Produkt" ihrer Umwelt sind...
    Ich habe leider noch nicht alles zu dir und deinem Blog lesen können aber er ist sehr interessant. GRÜßE

  • #6

    Romina (Montag, 27 Januar 2020 20:29)

    Liebe Yvonne, vielen Dank für deinen lieben Kommentar, das freut mich sehr! Und ja, ich bin ganz bei dir mit "Kinder sind auch immer die Produkte ihrer Umwelt". Nicht umsonst heißt es, man braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen. Man darf sich glücklich schätzen, dieses im echten Leben zu haben - aber ich freue mich auch zunehmend über den "digitalen Dorfbrunnen" und den damit sehr bereichernden wie inspirierenden Austausch mit anderen Mamas über das Netz und Social Media - so wie hier auch mit dir! Alles Liebe und noch viel Spaß beim Stöbern!